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Knapp 2 Jahre später


Was hat sich in 2 Jahren verändert?


 🎶

So viel in so kurzer Zeit

So schnell, dann ist nichts mehr gleich

Es zieht alles vorbei

Alles vorbei

So schwer, so unendlich leicht

Der Trubel, die Einsamkeit

Es zieht alles vorbei

Alles vorbei
🎶

(Lotte: Alles zieht vorbei) 


Fast 2 Jahre haben wir nun in Japan gelebt. 

Was hat sich verändert im Vergleich zu unseren ersten Tagen und Wochen? Haben wir uns denn verändert?

Wo könnte man das besser überprüfen als in Kyoto, wo wir vor knapp 2 Jahren unseren ersten "Urlaub" in Japan in Form eines verlängerten Wochenendes verbracht hatten.


Damals

Damals vor 2 Jahren hatten wir gerade erst unsere Wohnung in Tokyo bezogen. Noch gestresst vom Umzug und all den neuen Herausforderungen hetzten wir durch Kyoto und wollten so viel wie möglich in kürzester Zeit sehen und erleben. Aber Kyoto war größer und komplizierter als gedacht, es regnete, alles dauerte ewig und verständigen konnten wir uns auch nicht. Es war einfach anstrengend.
 

Und wir waren genervt von diesem neuartigen Virus in China, wegen dem nun alle Veranstaltungen und Events abgesagt wurden. Und wegen dem alles ganz ausgestorben war, weil spontan keine Touristen ins Land gelassen wurden. Keiner wusste, was in den nächsten Monaten passieren würde.

Und obwohl alles aufregend und Kyoto wunderschön war, konnten wir den Urlaub am Anfang nicht so richtig genießen.

Die ersten Wochen in Japan voller Japanisch-Lernen, Bewerben, Arbeiten usw. hatten an unseren Kräften gezehrt. Die Erwartungen an uns und das Geburtstagswochenende im sagenumwobenen Kyoto waren einfach zu hoch.


Erst am letzten Tag, als wir zu Fuß den Philosophenweg entlang spazierten, kamen wir zur Ruhe und lernten Kyoto von seiner schönen Seite kennen. Damals beschlossen wir, es ab jetzt ruhiger angehen zu lassen, weil wir ja noch 2 Jahre für all die Dinge und Erlebnisse vor uns haben würden.


Diesmal

Knapp 2 Jahre später waren wir deutlich entspannter auf unserer Reise.

Wir kannten alles bereits. Den Trubel am Bahnhof in Tokyo, das Fahren im Shinkansen, das Ticketsystem im Bus, das Schuhe-Ausziehen im Restaurant, das Binden des Yukatas im Ryokan und den Ablauf beim Besuch eines Onsen. Und wir konnten uns halbwegs verständigen.

Diesmal war es natürlich auch leichter, weil wir die Haupt-Sehenswürdigkeiten schon beim ersten Mal abgeklappert und diesmal sogar einen Tag mehr Zeit hatten.
Aber auch diesmal war unsere To-See-Liste wieder gut gefüllt. Zufällig hatten wir das beste Wochenende des Jahres für die japanische Herbströte erwischt und die galt es an den verschiedensten Tempeln und Orten der Stadt zu bewundern. Außerdem standen der berühmte Bambuswald "Arashiyama", ein spezielles Tofu-Restaurant, ein berühmtes Aal-Restaurant und der Skywalk im Bahnhof Kyoto auf dem Programm.


Der größte Unterschied zu unserem ersten Besuch in Kyoto: 

Damals hatten wir den Druck der nächsten 2 Jahre vor uns. Alles drehte sich darum, wie wir die 2 nächsten Jahre erleben würden und was wir alles machen könnten, sollten und müssten.

Diesmal lag all das hinter uns. Wir hatten keine Erwartungen mehr, keine Anforderungen, keinen Druck. Wir hatten in den 2 Jahren gelernt, dass manchmal alles anders kam, als man dachte, und dass man nicht alles planen und steuern konnte.

Zusätzlich – und das darf echt nicht unterschätzt werden – durften wir an diesem Wochenende einen kleinen Eindruck gewinnen, wie es in Japan ohne Corona sein könnte. Es gab zwar immer noch keine ausländischen Touristen im Land, aber alleine die japanischen Touristen an diesem perfekten Herbströte-Wochenende in Kyoto führten dazu, dass alle Orte komplett überlaufen waren. Lange Schlangen vor jedem Restaurant, überfüllte Busse und Züge, keine freien Gepäckschließfächer am Bahnhof und auf dem Hin- und Rückweg vom Bambuswald gab es vor jeder Ampel einen langen Fußgänger-Stau.

Einerseits half uns das beim besseren "Ertragen" unseres zeitlichen Corona-Pechs, andererseits war der Trip dadurch wieder etwas mühsam und anstrengend.


Und manche Dinge hatten sich im Vergleich zu vor 2 Jahren nicht geändert:

Auch diesmal überforderte uns der öffentliche Nahverkehr in Kyoto. Wir suchten ewig nach der richtigen Bushaltestelle, sahen den Bus dann doch woanders vorbeifahren und mussten uns mal wieder ein Taxi nehmen, damit wir nicht zu spät zu unserer Reservierung im Tofu-Restaurant kamen. Mit dem Taxifahrer konnten wir uns wie schon vor zwei Jahren überhaupt nicht verständigen.

Und dann kam das Abendessen im Ryokan:
Laut Informationen vom Hotel wurde das Abendessen von 18 bis 21 Uhr serviert. Als wir um 19:30 ankamen, waren wir aber die letzten Gäste, alle anderen verließen nach und nach den Saal. Unser Essen stand bereits fertig auf dem Tisch bereit und anscheinend war nicht mal mehr genug Zeit, um uns zu erklären, um was es sich bei den vielen Gerichten handelt oder um uns zu fragen, ob wir etwas trinken möchten.
Während wir versuchten, das Essen trotzdem irgendwie zu genießen, wurden um uns herum die Tische abgeräumt und geschrubbt.

Was hatten wir diesmal wieder verpasst oder falsch verstanden? Warum war jeder direkt um 18 Uhr gekommen? Ist das einfach eine japanische Angewohnheit, die nur auffällt, weil es außer uns keine anderen Ausländer im Hotel bzw. in Japan gibt? Waren wir unhöflich, weil wir zu spät kamen? Waren die Service-Kräfte unhöflich, weil sie um uns herum aufräumten? Oder war das normal und wir sollten uns einfach entspannen?

Wir verstanden mal wieder gar nicht, was hier gerade normal oder unnormal war, was höflich oder unhöflich war, was richtig oder falsch und was japanisch oder unjapanisch war.


Da stellt sich doch gleich die nächste Frage:

Wie Japanisch sind wir in 2 Jahren geworden?

Das Problem: Ich habe bis heute noch immer keine Ahnung, was Japanisch-Sein bedeutet.
Für mich gibt es immer noch so viele Widersprüche und Überraschungen im Verhalten der Japaner*innen, dass ich das "Japanisch-Sein" immer noch nicht einschätzen oder verstehen kann.


Wie Japanisch wir selbst sind, kann ich deshalb nur damit vergleichen, was ich von außen betrachtet, als "Japanisch" empfinde.

Dinge und Handlungen, bei denen wir (mehr oder weniger) Japanisch geworden sind:

  • Höflichkeit: Unser Kontakt zur Umwelt besteht aus ständigen Verbeugungen, Entschuldigungen, höflichen Anfragen und Danksagungen.
  • Shinkansen-Fahren: Mittlerweile wissen wir ganz genau, wann und wo wir stehen und einsteigen müssen, sodass der Zug wie geplant 30 Sekunden nach der Ankunft im Bahnhof wieder abfahren kann.
  • Arbeitszeiten: In seinen zwei letzten Monaten in Japan hat Uli den japanischen Arbeitsstil komplett angenommen, indem er von Montag bis Mittwoch bis 23 Uhr arbeitet und am Donnerstag und Freitag nach Feierabend mit seinen Kolleg*innen seinen Abschied begießt.
  • Mit Stäbchen essen: Auch Salat oder Ähnliches essen wir mittlerweile auch zuhause ganz selbstverständlich mit Essstäbchen – unsere eigene "Hashi"-Auswahl ist über die 2 Jahre enorm gewachsen.
  • Onsen: Nach unzähligen Onsen-Besuchen wissen wir mittlerweile ganz genau, wie wir uns vor und im Bad verhalten müssen.
  • Auf der richtigen Seite gehen: Hier kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass wir das besser können als die Japaner*innen selbst: In den Städten und z.B. Bahnhöfen gibt es immer Pfeile am Boden, die einem die Gehrichtung anzeigen, damit sich die Menschenmassen nicht in die Quere kommen. Wir halten uns da akribisch dran (auch wenn wenig los ist), weil es einfach hilfreich ist, wenn man genau weiß, wie man sich am besten durch Tokyo bewegt, um an seinem Ziel tatsächlich anzukommen.
  • Bezahlen: Was am Anfang in der Praxis noch echt schwierig war, können wir jetzt sehr gut: Geldscheine und auch Münzen mit beiden Händen überreichen und annehmen. Das hab ich so verinnerlicht, dass ich bei unserem Besuch in Deutschland gar nicht mehr wusste, wie ich beim Bäcker das Geld übergeben sollte.
  • Der Empfehlung vertrauen: Wir haben es so zu schätzen gelernt, dass es in jedem Restaurant eine "osusume" oder ein "Nr. 1"-Gericht gibt.
  • Plastiktüte mit dabeihaben: in Japan gibt es keine Mülleimer. Mittlerweile haben wir deshalb oft eine Tüte mit dabei, um unseren Müll, den wir unterwegs erzeugen, brav mit nach Hause zu nehmen. 
  • Reis ohne alles essen: Was ich mir als Saucen-Liebhaberin nie hätte vorstellen können, ist mittlerweile Realität geworden: Ich esse meinen Reis pur. Ohne Sojasauce. Wie eine echte Japanerin.
  • Verehrung des heiligen Fuji-san: Das muss ich euch nicht erklären, ihr kennt meine Fuji-Liebe.

Dinge und Handlungen, bei denen wir auch nach 2 Jahren immer noch sehr Unjapanisch sind:

  • Den Regenschirm halten, ohne dass er vom Wind erfasst wird und umklappt (im Gegensatz zu den Japanern, die auch wenn sie beim Gehen auf ihrem Smartphone lesen, es immer schaffen, den Schirm so auszubalancieren, dass er sich in die richtige Richtung neigt). 
  • Entspannt-Bleiben bei Erdbeben: Je näher unsere Abreise rückt, desto weniger entspannt erleben wir Erdbeben. Ist es die Angst, dass uns doch noch ein größeres Erdbeben bevorsteht, oder die Folge davon, dass es zurzeit ziemlich viele kleinere Erdbeben gibt?
  • Kleidung passend zum Wetter tragen: Ob Regenschirm bei plötzlichem Regen oder Sonnenhut mit Krempe an einem überraschend heißen Tag: Die Japaner*innen haben irgendwie immer die richtige Kleidung an oder zaubern sie plötzlich hervor. Im Gegensatz zu uns.
  • Geschwindigkeit beim Gehen: Obwohl wir uns seit 2 Jahren den Weg durch die Menschenmassen Tokyos bahnen, haben wir es nicht geschafft, die langsame Geschwindigkeit der Japaner*innen anzunehmen. Wir sind immer schneller unterwegs und müssen deshalb ständig überholen und uns durchschlängeln. Klar, wir lesen beim Gehen ja auch nicht auf dem Handy, aber selbst, wenn wir versuchen, bewusst langsam zu gehen, halten wir es hinter den langsam schlurfenden Japanern nicht aus.
  • Schlange stehen: Na gut, für ein besonders tolles Event oder Restaurant stellen wir schon auch mal in einer Schlange an, aber mit was für einer Seelenruhe sich die Japaner*innen stundenlang an irgendeinem Café, Süßigkeiten-Stand oder Kaufhaus anstellen. Haben die keine tausend anderen Dinge zu tun oder vor? Werden die nie ungeduldig? Oder: Was machen wir falsch, dass wir diese Ruhe nicht haben?
  • Schlafen in der U-Bahn und einfach überall: Entweder liegt das im Blut der Japaner*innen und es wird ihnen früh anerzogen, denn alle Japaner*innen, egal welchen Alters, können einfach auf Knopfdruck überall und immer im Sitzen schlafen.
  • Japanisch kochen: Ich weiß, viele von euch haben gehofft, dass ich zurück in Deutschland mal Japanisch für sie kochen würde, aber mir fehlt hier jeder Grund, Japanisch zu kochen, weil es viel mehr Spaß macht, es sich einfach perfekt zubereiten zu lassen.
  • Online-(Vor)bestellungen: Ok, dass wir es bei den raren Disneyland-Tickets nicht schaffen würden, welche zu ergattern, kann ich noch irgendwie nachvollziehen. Aber ich hatte es mir echt leichter vorgestellt, für das japanische Weihnachten das berühmte KFC-Menu und 1 oder 2 (oder 3) "Christmas Keki" zu bestellen. Falsch gedacht. Die japanischen Websites sind ja eh schon so wild und wirr, aber dann noch die begehrten Keki, die sofort ausgebucht sind, die ständigen Registrierungen für irgendwas, bevor man überhaupt bestellen kann, und die seltsamen Zahlungsmethoden, bei denen eine normale Kreditkarte seltener funktioniert als die U-Bahn-Karte ...
  • Teilen von Speisen: Klar, bestimmte Gerichte teilen wir im Restaurant auch, z.B. Tapas. Zumindest manchmal. Aber z.B. im Pizza-Restaurant bestellt jeder von uns eine eigene Pizza und die essen wir dann gleichzeitig. Nicht so die Japaner*innen: Bei denen wird erst eine Pizza bestellt und geteilt, dann die nächste usw., je nachdem, wie viele Personen am Tisch sitzen. Dazu müsste man sich aber ja erstmal abstimmen, welche Pizza jeder möchte, mit welchem Kompromiss man einverstanden wäre, mit welcher Pizza man startet, wann man die nächste bestellt usw. Viel zu kompliziert für uns. 
  • Entspannt- und Geduldig-Sein: Ich hatte so gehofft, dass ich mir hier eine Scheibe von den Japanern abschneiden könnte. Dass ich etwas von ihrer meditativen Grundhaltung, ihrer Gelassenheit und ihrer Tiefenentspannung annehmen würde. Das stumpfe Ertragen von allem, das Akzeptieren von Dingen, die man nicht ändern kann. (Wobei man sie ja vielleicht doch ändern könnte?) Das Nicht-ständig-über-alles-Nachdenken. Aber das Gegenteil ist der Fall. Hier passiert einfach so vieles, was mich beschäftigt.
  • Zurechtfinden am Shinjuku Bahnhof: Egal, wie oft wir am meist frequentierten Bahnhof der Welt unterwegs sind – nie kommen wir auf Anhieb da raus, wo wir hinmöchten. Ich könnte schwören, dass sich die Ausgänge bewegen und die Umgebung sich die ganze Zeit verändert. Alles sieht jedes Mal wieder anders aus und ich hab mich dort schon zigmal verlaufen.
  • Keinen Urlaub nehmen: In dieser Hinsicht werden wir nie Japanisch sein und das ist auch gut so.
  • Reiskocher benutzen: Ich hab genau einmal versucht, den Reis mit dem japanischen Super-Reiskocher zuzubereiten, der tausend Knöpfe hat und wirklich alles kann. Außer einfach meinen Reis zu kochen. Mittlerweile koche ich meinen Reis übrigens (fertig portioniert gekauft) in der Mikrowelle. Das wiederum ist sehr Japanisch. 
  • Mit der Masse gehen: Fragt man einen Japaner oder eine Japanerin nach einem Geheimtipp oder einer Empfehlung für einen bestimmten Ort (Uli hat das an sämtlichen Kollegen und Kolleginnen getestet), kommt zu 99% der genau gleiche Tipp (es ist fast immer ein Essensgericht, meistens in einem bestimmten Restaurant, was erklärt, warum es an manchen Orten immer so lange Schlangen gibt) oder die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt, die in jedem Reiseführer steht. Aber die Japaner*innen geben diesen Tipp voller Überzeugung und Inbrunst weiter. Warum sollte man auch etwas anders machen als all die anderen? Warum sollte man sich einbilden, dass man etwas Besseres entdeckt als alle anderen? Dann passiert es zumindest nicht, dass man irgendwo landet, wo man sich nicht zurechtfindet oder sich in Bären-Gefahr begibt. Falls einer von euch mal in Japan Urlaub macht: Meldet euch bei mir, ich hab bestimmt einen Geheimtipp für euch. Aber vielleicht solltet ihr auch einfach den japanischen Empfehlungen vertrauen.


Zusammengefasst:

Wir haben uns in vielerlei Hinsicht wunderbar an das Leben in Tokyo angepasst und viele Verhaltensweisen sehr gerne übernommen und adaptiert.

Aber trotz allem:
Gaijin bleibt Gaijin.

 

Das japanische Wort "gaijin" (jap. 外人) heißt so viel wie "Außenstehender, Mensch von außerhalb, Fremder".

 

Denn eines hat mir der erneute Besuch Kyotos gezeigt:
Wir sind immer die gleichen zwei ungeduldigen, unentspannten Deutschen, die wir vor 2 Jahren waren – wenn auch ein wenig weltoffener, aufmerksamer und verständnisvoller gegenüber anderen Kulturen als zuvor. 


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Kommentare: 2
  • #1

    Lissi (Donnerstag, 16 Dezember 2021 23:25)

    Ich werde diese Blogs vermissen.

  • #2

    Maria (Freitag, 17 Dezember 2021 19:11)

    Das klingt doch gut, dass ihr beide die Gleichen geblieben seid.